Achtsamkeit ist eine Sprache, die Agenturen lernen sollten
Eine verlängerte Mittagspause wegen Yoga, Arbeiten mit Blick aufs Meer, dein Hund am Schreibtisch, lachende Kollegen und Kolleginnen… ein glückliches Leben! – Wir können uns alle vorstellen, wo Fairness endet: eine Welt, in der niemand mehr über Work-Life-Balance spricht, weil sie einfach schon existiert. Wertschätzung, Gleichberechtigung, Selbstverwirklichung, ein Job, der Spaß macht. Auch Agenturen wissen, wo Fairness endet, wohin sie führen kann. Doch wo fängt sie eigentlich an?
Fairgency hatte das Vergnügen mit Mounira Latrache zu sprechen. Die 39-Jährige ist Autorin des Buches „Connected Business“ und Gründerin des gleichnamigen Beratungsunternehmens. Mounira gilt als Pionierin einer neuen Generation von Unternehmen. Was Leadership bedeuten kann, lernte sie bei Red Bull, BMW, als Leiterin des YouTube Spaces in Berlin und Pressesprecherin von Google. Ihre Funktion dort beschränkte sich allerdings nicht nur auf Public Relations. Mounira war einer der ersten Menschen weltweit, die engagiert wurden, um ein Unternehmen achtsam zu machen. Ein Begriff, der, wie wir gelernt haben, völlig zu Unrecht an Wert verloren hat. Bei Achtsamkeit geht es nicht um das gelegentliche Gespräch im Stuhlkreis oder eine Massage am Freitagnachmittag. Achtsamkeit kann die Welt verändern, denn sie ist der Schlüssel zur Fairness. Das Problem: Diese Erkenntnis als Unternehmen zu verstehen, bedeutet auch zu realisieren, vor massiven Transformationen zu stehen. Mouniras Job, beziehungsweise der von Connected Business, heute ist es, Teams und Führungskräfte über Wochen, teils Monate bei einer solchen Transformation zu begleiten.
Wir haben mit ihr über diesen Prozess gesprochen, erfahren, wie eine Mindfulness-in-Business-Trainerin ihres Kalibers arbeitet, und hatten ganz nebenbei so einige Aha-Momente.
Sehnsucht nach einer Arbeitswelt mit mehr Herz
Unser Gespräch begann jedoch erst dort, wo auch Achtsamkeit ihren Ursprung hat: im Persönlichen. Rückblickend weiß Mounira, dass achtsame Praktiken schon immer Teil ihres Lebens waren. Der Bedarf, diese auch als solche im Alltag ausfindig zu machen, zu definieren und zu fördern, entstand jedoch erst nach ihrem Studium in der Welt der Corporates. „Ich habe darunter gelitten, als ich immer mehr merkte, welche Mechanismen und Strategien in der Business-Welt zum Erfolg führen“, erzählt Mounira. „Gute Ideen wurden oft nicht umgesetzt, weil sie sich schlecht verkaufen ließen. Menschen wurden Opfer von Intrigen, verloren ihren Arbeitsplatz, weil sie nicht ins Machtgefüge passten. Eines Tages musste ich mir selbst als Head of Marketing einer großen Firma die Frage stellen: ‚Hey, was machst du hier eigentlich gerade?‘ Ich mag mich ja nicht mal selbst, so wie ich gerade bin. In mir wuchs der Drang nach Veränderung. Ich wusste nur nicht, wie diese aussehen sollte.“
Ein erster Mentor Mouniras wurde der Management-Guru Steven R. Covey mit seinem Buch „The Seven Habits of Highly Effective People“. Um Achtsamkeit ging es ihm nicht direkt, doch Mounira lernte, dass sie mit ihrer Sehnsucht nach einer Welt, in der Business weniger herzlos funktioniert, keinesfalls allein war. Der im Buch beschriebene Begriff der Wahlfreiheit sollte den Stein für sie in ihrem damaligen Job ins Rollen bringen. Dahinter steckt die bestechend einfache Tatsache, dass Menschen in jeder Situation die Fähigkeit besitzen, zu wählen und dabei ihren eigenen Einflussbereich zu finden. Was dieser Weisheit allerdings im Wege steht, ist eine andere Tatsache.
Gefühle vs. Leistung?
Die meisten Unternehmen sind noch immer autoritäre Konstrukte, in denen der Mensch, um zum Ziel zu gelangen, eine Rolle erfüllen müssen. Authentizität ist, wenn es um Gefühle geht, nicht gefragt – vor allem, sollten diese vermeintlich „schwach“ sein. Sie stehen dem Leistungsprinzip konträr gegenüber. Was könne eine einzelne Person da schon machen?
„Ich veränderte mein Verhalten. Ich redete offener über meine Gefühle, spiegelte, was in mir vorging. Nach kurzer Zeit arbeitete ich gefühlt in einem anderen Unternehmen.“
„Mein Verhalten schuf unmittelbar einen psychologischen Raum, in dem es auch für meine Kolleg:innen angemessen war, sich anders zu verhalten“, erinnert sich Mounira. Eine einzelne Person könne diesen Kampf jedoch nicht gewinnen. Ist Umsetzung für sich selbst auch wahnsinnig sinnvoll – achtsam sein, bringt nichts, wenn Strukturen bestehen, die auf anderen Werten aufgebaut wurden. Womit wir der Frage näher kommen, wo die Revolution für Fairness beginnt.
Neue Arbeitswelten brauchen eine neue Sprache
Agilität ist wichtig. Vertraut man Homepages, sind die meisten Unternehmen heutzutage agil. Die Zahl agiler Unternehmen ist deutlich höher als die Zahl achtsamkeitsbasierter Unternehmen. Dabei geht agil ohne achtsam gar nicht. Denn in einer Arbeitswelt, in der Mitarbeitende frei gestalten dürfen und sich alles um den relativ neuen Faktor „Purpose“ dreht, ist eine achtsamkeitsbasierte Selbstführung jedes Einzelnen Grundvoraussetzung. New Work lebt nach neuen Werten. Diese brauchen eine neue Sprache. „Die Verantwortung, dass das eigene Team diese neue Sprache lernt, liegt in der obersten Führungsetage. Wird hier verhindert, ist das Projekt ‚Fairness durch Achtsamkeit‘ gescheitert.“
Im Unternehmen eine neue Amtssprache einzuführen, ist eine maßgebliche, strategische Entscheidung – das Ziel, eine achtsame Kultur zu leben, damit ein langer Prozess.“
Sie vergleicht das Projekt mit dem Ziel, Französisch zu lernen. „Wer es lernen will, muss mehr tun, als gelegentlich ein Croissant zu essen. Man muss Vokabeln lernen, und auch Grammatik und am Ende auch die Sprache sprechen. Bieten Unternehmen ihren Mitarbeitenden Zugang zu Angeboten wie Meditations- oder Yoga-Kursen, ändert das noch nichts an der Unternehmenskultur. Es ist zwar der Anfang und Teil des Weges, um eine neue Sprache zu sprechen, aber einen französischen Akzent aufzusetzen, reicht eben nicht! Jedoch können Mitarbeitende nur mit dieser entscheidenden neuen Sprachkenntnis verstehen, wie sie ihre persönliche Reise eigenverantwortlich gestalten. Leider ist Achtsamkeit deutlich komplexer als eine Sprache“, so Mounira. Wie startet man trotzdem die Revolution?
Echte Transformation kennt keine Abkürzungen
Es gibt viele Dinge, die eine Revolution anstoßen. Im Falle Mouniras und Google war es, „einfach mal kurz innezuhalten“. Achtsamkeitssitzungen folgten. Geht Mounira in ein Unternehmen, erhalten die Mitarbeitenden eine Toolbox, anhand derer sie verschiedene Fähigkeiten erlernen und trainieren. Emotionale Intelligenz, Selbstführung, Empathie, das Erzeugen eines Raums psychologischer Sicherheit – klingt intensiv und aufwendig. Und ist es auch. „Von Quick Fixes können sich Leader verabschieden. Die Transformation verlangt sowohl Einzelsitzungen als auch Workshops für Co-Creation.“ Wie soll das in einem Unternehmen mit tausenden Mitarbeitenden gelingen, möchten wir wissen. Sagt sie eine Anfrage ab, wenn sie nur für eine Abteilung engagiert wird? „Es ist ein laufender Prozess, in dem die Teams auch lernen zu verzeihen, sollte mal eine neue Vokabel vergessen oder noch nicht erlernt worden sein. Es muss eine kritische Masse von Weisheit im Unternehmen erreicht werden. Schritt für Schritt. Dann ist die Revolution nicht mehr aufzuhalten.“
Achtsamkeit ist kein Trend
Hatte Mounira als Mindfulness-Trainerin vor einigen Jahren noch einen ungewöhnlichen Job, sieht es heute in der Post-Pandemie-Welt anders aus. „Als ich vor acht Jahren begonnen hatte, mit Unternehmen über achtsamkeitsbasierte, emotionale Intelligenz zu sprechen, musste ich teilweise stundenlange Überzeugungsarbeit leisten, um den Wert dieses Themas zu erklären. Ich schaute in viele verdutzte Gesichter. Heute erkennen immer mehr Menschen, dass sich die Corporate-Welt nicht mehr lange so drehen kann, wie sie es Jahrhunderte-lang tat.“ Mounira freut sich darüber, dass immer mehr Unternehmen das Thema auf ihre Agenda holen. Dass die Agenda das eigentliche Problem ist, bleibt aber als Erkenntnis schlicht zu schmerzhaft. Achtsamkeit ist nicht das Gegenteil von Leistung – das haben mittlerweile alle verstanden. Mehr noch: Sie ist sogar gut für die Leistungsfähigkeit eines Unternehmens. Nur kann man sie nicht einfach zum Gesetz erklären. Achtsamkeit ist kein Trend und sie lässt sich auch nicht benutzen. Unternehmen müssen sie denken und leben.
„Stellt euch in den Service eurer Teams!“
Wie wird man jetzt also zum Revoluzzer, Mounira? „Übernehmen Maschinen und Software unsere Arbeit, muss irgendetwas anderes in den Fokus rücken. Es ist das Menschsein.“
„Die Zeit des Egos ist vorbei. Es geht um das ‚Wir‘ und dieses kann nur in einem Raum psychologischer Sicherheit entstehen. Ein Raum, in dem jeder so sein kann, wie er will. Ein Raum, in dem Fehler gemacht werden können.“
Agenturführer:innen müssen sich in den Service ihrer Mitarbeitenden stellen, um genau diesen Raum zu schaffen. Ein Raum, in dem jeder Verantwortung für seinen Anteil übernimmt, sich verletzlich zeigt und dabei ehrlich und aufrichtig im Dienste des Großen ganzen steht.“
Wir sind in das Gespräch mit Mounira Latrache auch mit dem Ziel gegangen, möglichst konkrete Tipps für unsere Leserschaft zu formulieren. Doch ist unser größtes Learning, dass es einen 5-Punkte-Plan nicht geben kann. Wir verabschieden uns von dieser inspirierenden Frau, die sich selbst übrigens nicht als Expertin für Achtsamkeit beschreiben würde, mit etwas viel wertvollerem. Es ist die Erkenntnis, auf welchem einzigen Weg Fairness entstehen kann und dass sie, wenn sie echt ist, alles verändert. Sie ist eine Revolution und wir können nur über unsere Praxis lernen, von Menschen, die diese Wege schon gehen. Es geht nicht darum, wer achtsamer ist als der andere. Es geht darum, gemeinsam eine kritische Masse von Unternehmen zu erzeugen, die achtsam handeln. Wir treten dann endlich in das neue Paradigma, dass so überfällig ist. Wenn wir es schaffen, wird es unsere Arbeitsplätze und die Welt, in der wir leben, gleich mit verändern. Eine verlängerte Mittagspause wegen Yoga sei damit allen gegönnt.